Das Interview führte Fr. Joe Vella Gauc
Frau Hybášková, inwieweit werden Sie als neue Vorsitzende der EU-Delegation im Irak vor dem Hintergrund dieses „Albtraumszenarios“ in der Lage sein, die politischen Ziele der EU mit Blick auf die Schaffung von Sicherheit, Stabilität (im Sinne von Rechtsstaatlichkeit) und Demokratie umzusetzen?
Ich bin sehr stolz, als Vertreterin des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) im Irak zu sein. Meine Aufgabe gibt mir die Möglichkeit, die Interessen von 500 Millionen Europäerinnen und Europäern und 32 Millionen Irakern zu vertreten. Unser Hauptinteresse gilt der Stabilität dieses äußerst rohstoffreichen Landes, des letzten Landes des Welt, das die Natur der Rohstoffmärkte nachhaltig verändern kann.
Darüber hinaus ist der Irak das erste Land des Nahen Ostens mit einer demokratisch gewählten Regierung. Der Irak ist derzeit darum bemüht, die enormen Einnahmen aus seiner Erdölproduktion zu verwalten. Auseinandersetzungen zwischen den diversen politischen Gruppierungen ist da die natürliche Folge. Die EU kann den Irak durch die Konsolidierung des demokratischen Prozesses, Hilfe bei der Umsetzung des neuen Öl- und Gasgesetzes, die Harmonisierung der regionalen und föderalen Interessen und die durch Förderung einer repräsentativen Demokratie unterstützen.
Gleichzeitig kann die EU dem Irak helfen, die religiösen Spaltungsprozesse zu überwinden. Das irakische Sozialgefüge wurde während der 35-jährigen Saddam-Herrschaft stark beschädigt. Die Iraker erlebten in dieser Zeit den Ersten Golfkrieg, UN-Sanktionen, Massaker an Kurden und im Rahmen der Aufstände im Südirak auch an Schiiten. Im Laufe dieser 35 Jahre verlor das Land nahezu 4,6 Millionen Einwohner. Die EU ist ein anschauliches Beispiel für eine menschliche Gesellschaft, der es gelungen ist, nach der völligen Zerstörung den Neubeginn zu schaffen.
Die amerikanischen Streitkräfte verlassen den Irak. An ihre Stelle tritt die EU mit ihrer „sanften Gewalt“. Wir unterstützen den Irak mit unserer Rechtsstaatlichkeitsmission, genannt EUJUST LEX. Bis dato haben wir im Rahmen dieser Mission über 3000 irakische Polizisten, Richter und Strafvollzugsbeamte ausgebildet. Die „sanfte Gewalt“ hat auch eine humanitäre Seite. Wir bieten den NGOs an, in Zukunft im Rahmen humanitärer Projekte unmittelbar mit uns zusammenzuarbeiten. Wir unterstützen eine Million Witwen und 800 000 Waisenkinder, die ohne Lebensunterhalt sind.
Natürlich verfolgt Europa auch eigene Interessen. So streben wir eine Stärkung der strategischen Energiepartnerschaft zwischen der EU und dem Irak an, vornehmlich im Hinblick auf zukünftige Gaslieferungen über den sogenannten südlichen Korridor. Ohne einen vollständig vereinten und funktionierenden irakischen Staat bzw. eine irakische Wirtschaft wird diese Partnerschaft aber nicht möglich sein. Aus diesem Grunde liegt die Stabilität des Landes im natürlichen Interesse der EU.
Wie bewerten Sie die Rolle der Religion bzw. der „interreligiösen Diplomatie“? Sollte es innerhalb des Europäischen Auswärtigen Dienstes Raum für Religion geben (beispielsweise durch die Schaffung einer Einheit „Religiöse Angelegenheiten“)?
Die Religion spielt in der Region eine äußerst wichtige Rolle. Der gesamte Nahe Osten ist auf der Suche nach Identität, wird aber derzeit durch religiöse Spaltungsprozesse zerrissen. Die totalitären Staaten sind dem Untergang geweiht, doch gibt es noch keine modernen Gesellschaften, in denen die Menschenrechte eines jeden einzelnen gleichermaßen geachtet werden.
Die Menschen im Nahen Osten befinden sich auf der verzweifelten Suche nach Gemeinschaft, nach einer gemeinsamen Identität. In Anbetracht der Folgen von Unterdrückung und einer durch den jahrelangen Krieg zerstörten Zivilisation ist die Tendenz zur religiösen Spaltung nur natürlich. Selbstverständlich wird Religion oftmals als Mittel zur Förderung der Interessen mitunter korrupter Staatschefs missbraucht. Vor diesem Hintergrund gibt es Menschen, die versuchen, anderen eigene Wahrheiten aufzuzwingen, um zu regieren und sich materielle Vorteile zu verschaffen.
Dies hat aber nichts mit dem Islam, den Schiiten, den Sunniten, der Christenheit oder dem Judentum zu tun. Unsere Aufgabe ist es, diesen Gesellschaften zu helfen, grundlegende persönliche Rechte anzuerkennen, zu fördern und zu garantieren. Zivilgesellschaften müssen neu aufgebaut und die Demokratie in den Gesellschaften, in denen die Religion eine grundlegende Rolle spielt, verankert werden. Auf diese Weise entstand in Europa eine christliche Demokratie.
Unser neuer Auswärtiger Dienst wird von zahlreichen Diplomaten aus den Mitgliedstaaten unterstützt, die nun unmittelbar für ihn arbeiten. Mit ihrer Hilfe sind wir im Begriff, das neue politische Gesicht des EAD zu gestalten. Was wir benötigen, sind aber weniger eingehende Kenntnisse über Religion, sondern ein starkes, gemeinsames, im Geiste des EAD verankertes Verständnis für die Menschenrechte sowie die Förderung der Achtung dieser Rechte. Nur so wird es uns gelingen, den gegenwärtigen Konflikt zwischen den religiösen Gruppierungen durch Toleranz, gegenseitiges Verständnis, friedliches Zusammenleben und Liebe zu den Menschen zu lösen.
Wie könnte die EU angesichts der Terrorbedrohung (etwa durch die nach eigenen Angaben mit Al-Kaida zusammenarbeitende militante Organisation „Islamischer Staat des Irak“) die Sicherheit im Lande verbessern und den wirtschaftlichen Wohlstand im Irak fördern?
Ursache für das Leid im Irak ist das beschädigte Sozialgefüge, das zerstörte kulturelle und soziale Kapital des Landes, der Zusammenbruch der Gemeinschaften und die tief verwurzelte Armut. Die soziale Realität zeigt ein zutiefst religiöses Land mit nahezu drei Millionen mittellosen Witwen. 700 000 Kinder gehen nicht in die Schule, 100 000 Untersuchungshäftlinge sitzen in den Gefängnissen.
Dieses allgemeine Elend, gepaart mit einer hohen Analphabetenrate, hoher Arbeitslosigkeit und einer brach liegenden Wirtschaft, stellt einen idealen Nährboden für den Terrorismus dar. Nach einem Monat in Bagdad habe ich begriffen, was der Begriff „Aufstand“ bedeutet: In erster Linie geht es ums Geschäftemachen. Die Rebellen betreiben Geschäfte mit Erpressung, Entführungen und Raubüberfällen und die Gefängnisse bilden die Brutstätte für diese Aktivitäten.
Um diese tiefe Wunde zu heilen, müssen wir die wirtschaftliche Situation des Landes ändern, die Armut ausmerzen. Oberste Priorität hat die Stromversorgung. Noch immer ist diese nicht überall gewährleistet; der Aufbau eines flächendeckenden Stromnetzes stellt auch weiterhin eine große Herausforderung dar. Vor diesem Hintergrund muss die EU dem Irak helfen, lokale Energieversorgungssysteme aufzubauen, zum Wohle einer grundlegenden Gesundheitsversorgung, eines funktionierenden Bildungs- und Sozialsektors, aber auch kleinerer Unternehmen. Nur durch den Abbau der Arbeitslosigkeit und dadurch, dass mehr Kinder die Grundschule besuchen, wird man dem Aufstand den Nährboden entziehen können. Des Weiteren müssen wir die regionalen Beziehungen des Iraks fördern und seine Nachbarländer auffordern, sich nicht in die inneren Angelegenheiten des Landes einzumischen. In diesem Bereich können wir wirklich etwas bewirken.
Wie wird es der EU gelingen, an präzise Informationen und Unterlagen über die irakischen Flüchtlinge zu gelangen? Wie will sie dafür sorgen, dass den Flüchtlingen angemessene Unterkünfte zur Verfügung gestellt und ihre Familien nicht aufgeteilt werden, sondern zusammen bleiben, dass sie Zugang zu Gesundheitsfürsorge und Bildung, einem geregelten Einkommen und Lebensunterhalt erhalten, dass die Interessen besonders schutzbedürftiger Gruppen gewahrt und ihnen die Möglichkeit eingeräumt wird, den Kontakt mit ihren Verwandten im Irak aufrechterhalten?
Gemeinsam mit ihren Partnern verfolgt die EU die Situation der irakischen Flüchtlinge in der Region mit großer Aufmerksamkeit. Wir sind uns der Realität und der aktuellen Entwicklungen voll und ganz bewusst. Wir helfen irakischen Flüchtlingen bei der Versorgung mit Wasser, sanitären Einrichtungen, Gesundheitsfürsorge, psychologischer Betreuung und Unterkunft. Wir unterstützen ferner den Irak bei der Aufnahme dieser Flüchtlinge und bei ihrer Integration in das irakische Bildungssystem bzw. ihrem Zugang zu Basisdienstleistungen.
Dank seiner Einnahmen aus der Erdölproduktion verfügt der Irak heute über die erforderlichen Mittel, um all seinen Bürgern einen angemessenen Lebensstandard zu garantieren. Wir erinnern die Iraker ständig daran, sich insbesondere der Bedürfnisse schutzbedürftiger Gruppen allgemein und der Flüchtlinge im Besonderen anzunehmen. Ferner drängen wir die irakische Regierung dazu, die Voraussetzungen für die Rückkehr irakischer Familien und Einzelpersonen zu schaffen. Die Regierung zeigt sich offen für diese Themen, die konkrete Umsetzung ist aber nach wie vor problematisch.
Ihrer persönlichen Erfahrung und Analyse nach, welche Richtung wird die arabische Bevölkerung nach den jüngsten Regierungsumstürze im Nahen Osten und Nordafrika einschlagen?
Es gibt einen großen Unterschied zwischen den Revolutionen des arabischen Frühlings und denen in Mittel- und Osteuropa. Letztere waren politisch motiviert; die Menschen kämpften um ihre politischen und bürgerlichen Rechte, wie das Recht auf freie Meinungsäußerung, Religionsfreiheit und Freizügigkeit.
Im Nahen Osten dagegen ist die Lage anders: Hier handelt es sich um eine soziale Revolution. Die Menschen gehen für ihre Grundbedürfnisse auf die Straße. Sie fordern Arbeit, Schulen, Wohnraum sowie grundlegende soziale Sicherheit, eine Altersversorgung, sauberes Wasser und Brot. Ihre politischen Forderungen hingegen sind weniger klar formuliert. Insofern ist es in diesem Stadium nicht richtig, von Islamismus, Islamisierung oder religiöser Spaltung zu sprechen.
Eines aber ist wichtig: Das Zeitfenster für ein Eingreifen Europas ist nicht groß. Wenn die EU und der Westen allgemein nicht in den kommenden Monaten reagieren, wenn sie den Bevölkerungen im Nahen Osten nicht bei der Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse zur Seite stehen, dann werden sich diese an diejenigen mit den besten Wohlfahrtseinrichtungen, den besten sozialen Dienstleistungen, den einfachsten Versprechen wenden. Leider ist das einzige heutzutage in der Region bestehende soziale System ein islamistisches System, eine Lücke, die derzeit mit iranischer Hilfe gefüllt wird. Wenn wir uns nicht organisieren und nicht mit maßgeschneiderten Antworten reagieren, die auf konkreten Umfragen und genauen Bedarfsanalysen basieren, wenn wir keinen Mehrwert liefern und nicht darum bemüht sind, kurzfristig grundlegende Dienstleistungen zu erbringen, dann besteht die Gefahr, dass wir an Boden verlieren. Insofern kann ich nur jeden Schritt unterstützen, den die EU unternimmt.